Was das Judentum der Welt schenkt

Oberrabbiner Arie Folger, die höchste religiöse Instanz des Judentums in Österreich, schweigt kurz: Auf die Frage, welches Buch der Hebräischen Bibel er am meisten schätzt, sagt er nach einigen Augenblicken des Nachdenkens: „Eine besondere Inspiration beziehe ich aus Esra-Nehemia.“ Warum?
 
„Weil Esra und Nehemia in einem Umfeld werkten, in dem Juden lange keine jüdische Erziehung hatten.“ Die Juden kamen damals aus dem Babylonischen Exil zurück nach Israel. Und sie mussten wieder lernen, jüdisch zu leben. Folger: „Am ersten Tag des siebten Monats kommen sie zu Esra und sagen: Wir wollen Torah lernen, was ist das Judentum? Und sie lesen sechs Stunden lang aus der Torah. Am nächsten Tag lesen sie weiter. Und dann entdecken sie das Laubhüttenfest, das bald gefeiert werden soll.“
 
Solche Szenen hat Folger schon öfters erlebt, wenn Leute den Weg zurück zu ihrem Judentum finden. „Dass diese Menschen das Judentum dann neu als Bereicherung empfinden, das gibt mir Mut“, sagt der Oberrabbiner.
 
Herr Oberrabbiner, wenn Sie das Judentum in wenigen Sätzen erklären müssten, wie würden diese Sätze lauten?

Arie Folger: Das jüdische Volk sieht sich als auserwähltes Volk mit einem bestimmten Auftrag, um eine Art Gesellschaft aufzubauen, damit bestimmte, von Gott erwünschte Werte in die Welt eindringen. Eine Gesellschaft, die quasi als Modell-Gesellschaft dienen kann, woraus Leute sich inspirieren lassen können.

Der Plan, wie diese Gesellschaft aufzubauen ist, basiert auf der Torah als Verfassung. Das Zentrum dieser Gesellschaft ist das Heilige Land und die jüdischen Gemeinden weltweit sind die Satelliten dieser Gesellschaft.
 
Was ist das Geschenk des Judentums an die Menschheit?
Arie Folger: Es gibt ein Buch von einem christlichen Theologen, Thomas Cahill, „The Gift of the Jews“ („Das Geschenk der Juden“), wo er eine Antwort auf diese Frage gibt.
 
Eine der Antworten: Zeit ist nicht nur zyklisch, sondern auch linear. In primitiven Gesellschaften kennt man nur die Zeit, die sich wiederholt. Der Gedanke, dass es Fortschritt gibt, dass es eine Verantwortung für die Folgen dessen gibt, was wir getan haben, ist eine Erkenntnis des ethischen Monotheismus. Hier steht das persönliche Handeln im Vordergrund. Ein Geschenk ist auch der Sabbat, überhaupt die Woche.
 
Es gibt ein Buch vom Historiker Ken Spiro, „World Perfect“, wo er sechs Werte  für die Welt herausgefiltert hat, die alle vom Judentum geprägt sind: Wertschätzung für das menschliche Leben, Frieden und Harmonie, Gerechtigkeit und Gleichberechtigung, Erziehung, Familie und Soziale Verantwortung. Sie sind ein Teil unseres westlichen Erbes. Auch das Christentum hat dabei eine nicht geringe Rolle gespielt.
 
Am 17. Jänner begehen die christlichen Kirchen in Österreich seit dem Jahr 2000 den „Tag des Judentums“ zum bußfertigen Gedenken an die jahrhundertelange Geschichte der Vorurteile und Feindseligkeiten zwischen Christen und Juden und zur Entwicklung und Vertiefung des religiösen christlichen-jüdischen Gesprächs. Was bedeutet Ihnen dieser Tag?
 
Arie Folger: Am 17. Jänner im vergangenen Jahr war ich noch nicht in Österreich, da kann ich nicht viel dazu sagen. Ich bin aber im interreligiösen Dialog aktiv, dazu habe ich Vorstellungen und Erfahrungen. Der interreligiöse Dialog hat sehr viel dazu beigetragen, dass Vorurteile abgebaut wurden.
 
Welche Bedeutung hat dabei die in der Konzilserklärung „Nostra aetate“ formulierte Haltung der katholischen Kirche in Hinblick auf das Judentum?
 
Arie Folger: Wir merken, dass die katholische Kirche mit der Erklärung „Nostra aetate“ des Zweiten Vatikanischen Konzils vor mehr als 50 Jahren einen Weg eingeschlagen hat, der gute Früchte gebracht hat.
 
Viele der klassischen alten antisemitischen Vorwürfe, die aus christlichen Kreisen kamen, werden heutzutage von der katholischen Kirche nicht nur nicht gebilligt; sondern die Kirche wirkt auch aktiv gegen diese Vorurteile und Einstellungen. „
Nostra aetate“ hat tatsächlich etwas in Bewegung gesetzt. Obwohl viele Leute anfangs skeptisch waren, muss ich im Rückblick sagen, dass sehr viel erreicht worden ist.
 
Aber es gibt auch die neuen Vorurteile, die neuen Entfremdungen in der Gesellschaft, weil diese immer säkularer wird. Da haben wir erstens die Aufgabe, uns einzusetzen für Verständnis, Respekt und Toleranz und zweitens, dass wir alle für die Gesellschaft, in der wir leben, Beiträge leisten. Das wurde auch durch den interreligiösen Dialog möglich.
 
Nehmen Sie Antisemitismus wahr in Österreich?
 
Arie Folger: Im Alltag und am eigenen Leib wenig. Das heißt aber nicht, dass es ihn nicht gibt. Es gibt erstens den terroristischen, gewalttätigen  Antisemitismus, in Form von Anschlägen, zweitens enorm viele Vorurteile gegen religiös-praktizierende Menschen aller Konfessionen. Da geht es etwa darum, dass Menschen wenig bis kein Verständnis dafür haben, dass es religiöse Feste gibt, etwa den wöchentlichen Schabbat. Auch Christen, die ihren Glauben ernst nehmen, stoßen hierzulande auf Unverständnis in ihrer Umwelt. Wir wollen Verständnis von allen für alle.
 
Dann gibt es noch eine andere Art Antisemitismus, den politischen, das ist der neue Antisemitismus. Heutzutage hat „Israel“ das klassische Feindbild, das einst „Jude“ hieß, übernommen. Es erlaubt manchen Leuten, die Juden und Jüdisches nicht mögen, sich jetzt hinter der Politik zu verstecken: Wir sind ja nur antizionistisch, nicht antisemitisch. Nicht, dass Israel nicht kritisiert werden darf, aber eine Menge Israel-Kritik ist keine faire Kritik, sondern ein verheimlichter Antisemitismus.
 
Es gab in der jüngeren Vergangenheit keinen Papst, der nicht im Heiligen Land war. Ist das beispielhaft für das Verhältnis zwischen Christentum und Judentum?
 
Arie Folger: Wie schon gesagt: Seit der Konzils-Erklärung „Nostra aetate“ hat sich sehr viel in der katholischen Kirche getan. Die Päpste Johannes Paul II., Benedikt XVI. und Franziskus haben ganz in diesem Geist gehandelt und den Dialog vielfach weiterentwickelt. Unter Johannes Paul II. hat der Vatikan den Staat Israel diplomatisch anerkannt. Diese Handlung ist politisch und religiös: Es ist der demokratische Staat Israel, es ist auch der jüdische Staat Israel, es ist auch die Rückkehr der Juden nach Zion. Johannes Paul II. hat einige christliche Wurzeln der Shoa anerkannt. Auch wenn viele Leute der Kirche Juden versteckt und gerettet haben, ist es nicht so, dass es keine christliche Vorgeschichte der Shoa gab. Papst Benedikt XVI. hat eine theologische Wende gebracht, als er plötzlich positiv zu rabbinischen Schriften stand und rabbinische Schriften zitiert hat. Und Papst Franziskus spricht klar und deutlich vom neuen Antisemitismus und engagiert sich stark im interreligiösen Dialog. Diese drei Päpste haben enorm viel zur Verständigung beigetragen.
 
Quelle: Der SONNTAG / Stefan Kronthaler

Zur Person
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Mit dem 1. Juli 2016 trat der neue Wiener
Oberrabbiner Arie Folger offiziell sein Amt an. Er folgt auf Paul Chaim Eisenberg, der in Pension ging.
 
Folger wurde in Antwerpen geboren und studierte in Belgien, Israel und den USA. Neben seiner Rabbinats-Ausbildung kann er auch auf ein abgeschlossenes Wirtschaftsstudium verweisen. Von 2003 bis 2008 war er Gemeinderabbiner in Basel, von 2011 bis 2013 in München. Folger ist mit einer US-Amerikanerin verheiratet. Das Paar hat sechs Kinder.
 
 
Die Gedanken von Oberrabbiner Arie Folger
hören Sie am 16. Jänner um 17.30 Uhr auf
radio klassik Stephansdom.